Wir sind in einer Ausnahmesituation: Die Weltgesundheitsorganisation stuft den Ausbruch des neuen Coronavirus als Pandemie ein, er ist offiziell weltumspannend. Diese Nachricht ist allerdings kaum mehr als eine Randnotiz, schließlich war vielen klar, dass wir längst mittendrin sind im globalen Infektionsgeschehen. Auch in Deutschland: Großveranstaltungen werden abgesagt, Menschen stehen unter häuslicher Quarantäne, Fußballspiele finden vor leeren Rängen statt, Messen, Konzerte, Theatersäle machen dicht. Zwar ist die Gefahr, sich hierzulande mit Sars-CoV-2 anzustecken, noch eher gering. Doch ändert sich dies gerade mit jedem weiteren Tag. Die Zahl der bestätigten Infektionen steigt und wird noch deutlich weiter steigen. Gingen die ersten Ansteckungen noch von eingereisten Erkrankten aus, breitet sich das Virus inzwischen auch hierzulande lokal aus, besonders stark im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. Diese Woche sind auch in Deutschland die ersten Menschen in Folge einer Covid-19-Lungenentzündung gestorben.    

In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten könnten sehr viele Fälle dazukommen. Darauf stellen sich die Bundesregierung und die obersten Seuchenwächter am Robert Koch-Institut ein. Was Forscher wie der Berliner Charité-Virologe Christian Drosten schon länger äußern, bekräftigte nun auch Kanzlerin Angela Merkel: 60 bis bis 70 Prozent der Deutschen könnten sich mit dem neuen Erreger anstecken. Das wirkt bedrohlich – und das ist es auch. Es geht nicht mehr so sehr um das Ob, sondern das Wann.

Eine Epidemie mit hohen Dunkelziffern

"Konkrete Vorhersagen sind schwierig, gerade weil wir noch nicht wissen, wie die Menschen ihr Verhalten verändern", sagt etwa Richard Neher, der am Biozentrum Basel die Evolution von Viren und Bakterien erforscht: "Aber die Szenarien, was passiert, wenn nichts getan wird, sind relativ robust."

Um solche Szenarien zu erstellen, brauchen Forscherinnen zunächst einmal Daten zum bisherigen Verlauf der Epidemie: Wann hat sich jemand wo infiziert? Wie viele sind gestorben, wie viele genesen? In Deutschland sammelt und veröffentlicht das Robert Koch-Institut alle gemeldeten Fälle. Gleichzeitig trägt die Weltgesundheitsorganisation WHO die Daten sämtlicher betroffener Länder weltweit zusammen. Und die Johns Hopkins Universität im US-amerikanischen Baltimore hat ein Datenportal erstellt, auf das längst nicht mehr nur Wissenschaftler, Politikerinnen oder Journalisten zugreifen, sondern alle, die sich informieren wollen: Eine Weltkarte, die mit jedem neu bestätigten Fall größer werdende Kreise auf schon mehr als 100 Länder projiziert.


Doch noch ist unsicher, wie präzise diese Zahlen die tatsächliche Anzahl der Infizierten abbilden. Niemand weiß, wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind. Zu den getesteten Infizierten kommt eine Dunkelziffer. Wie hoch sie ist, kann niemand wirklich sagen. Da Covid-19, die Lungenerkrankung, die Sars-CoV-2 auslösen kann, in den allermeisten Fällen milde verläuft, ist es schwer, alle Betroffenen zu finden. Nicht jeder Infizierte bemerkt Symptome und nicht jeder geht oder muss zum Arzt und bekommt dort eine korrekte Diagnose. Außerdem vergehen nach derzeitigem Wissensstand durchschnittlich fünf bis sechs Tage, bis sich nach der Infektion erste Symptome zeigen. Gerade in besonders betroffenen Gebieten sind die Fallzahlen unsicher, weil so viele Menschen erkrankt sind, dass nicht mehr alle getestet werden können. Um trotzdem einen Überblick über den Ausbruch zu behalten, greifen Forscherinnen und Wissenschaftler auf grundsätzliche Überlegungen zurück.

Im Durchschnitt steckt jeder Infizierte zwei bis drei andere an

Wovon spricht also der Virologe Christian Drosten, wenn er sagt, dass sich 60 bis 70 Prozent der Deutschen anstecken könnten? Es geht dabei um den Anteil der Bevölkerung, der sich insgesamt mit einem bestimmten Virus infiziert, Epidemiologen nennen ihn die Attack Rate. Um sie zu berechnen, muss man zuerst einen Schritt zurückgehen: Man muss verstehen, wie ansteckend ein Erreger ist. Das führt zu einer Zahl, von der viele inzwischen schon gehört haben: der Basisreproduktionszahl R0.